MIROW (SCHLOSSINSEL UND FUSSBALL)

Bevor ich mir heute Abend das Fußballspiel ansehen und mich und meine Hoffnung auf vitalere Landstriche und Ortschaften an einem Bierkrug festhalten werde, möchte ich noch das Schloss besuchen.
Ich betrete die Mirower Schlossinsel und befinde mich schlagartig inmitten eines eindrucksvollen Spektakels. In den Bäumen, die um das Schloss und die Kirche herum in den vanillefarbenen Nachmittagshimmel greifen, befinden sich einige hundert Krähennester. Außer mir ist kein Mensch auf der Insel zu sehen und somit höre ich ausschließlich diesen phantastischen, scheinbar von jedem Rhythmus befreiten Krachteppich der Vögel. Das hämmernd gekrächzte Hak-Hak der dominanten Saatkrähen vermischt sich mit dem gekicherten Tjak-Tjak der aus dem Hintergrund observierenden Dohlen. Ich sitze über eine Stunde auf einer zentralen Bank zwischen den Bäumen und schaue ihnen beim Nestbau zu, bin überrascht da teilweise drei oder vier Vögel an einem einzigen werkeln. Ununterbrochen sind zehn, fünfzehn, zwanzig Vögel auf einmal in der Luft. Es klingt als gäbe es Streit, erbostes und basslastiges Flügelschlagen, schneidendes Schreien, plötzliche Sturzflüge. Ein herrliches Schauspiel wird hier aufgeführt und versöhnt mich augenblicklich mit dieser Stadt, da es lediglich fünf Fußminuten vom toten Punkt des Zentralen Omnibusbahnhofs bis hierher zu dieser imposanten Aufführung benötigt. Es ist der Moment, in dem ich ankomme in meiner Reise, in dem ich glücklich darüber bin losgegangen zu sein und dankbar dafür, solche Darbietungen zu erleben.

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Die Krähen werden hier zu einem Problem für die Stadt, denn die Schlossinsel zitat_11ist die Hauptattraktion im Ort und zwischen März und Juni versteht man bei Führungen im aufwendig renovierten Schloss sein eigenes Wort kaum. Man sucht ebenso händeringend wie erfolglos nach einem Uhu, der dafür sorgt, dass die Krähenkolonie aufgelöst wird. Nach den Erfahrungen auf den Mirower Straßen fühle ich eine tiefe Verbundenheit zu diesen schlauen und gerissenen Vögeln. Sie sollen mir über sechs Wochen hinweg die treuesten und liebsten Weggefährten sein. Wann immer ich einen Kolkraben krächzen höre oder zwei Nebelkrähen erblicke, wie sie einen viel größeren Habicht ohne Probleme aus ihrem Revier verdrängen, muss ich schmunzeln und freue mich über ihren Krach. Krähen ecken alleine durch ihr Auftreten und ihre Präsenz an – und den gleichen Eindruck habe ich seit heute auch von mir. Ein Hoch also auf die Rabauken, Störenfriede, Nervensägen und Radaubrüder. Ich verlasse die Schlossinsel und bin eins mit allem, zumindest mit denen, die schwarzes Gefieder tragen und die Stille aggressiv zerhacken. Wer über Tage hinweg keinen intensiven Kontakt zu anderen Menschen hat, wird glücklich, wenn er die Kraft eines Vogelschwarms um sich spürt.


Am Marktplatz treffe ich dann die beiden HipHop-Jungs von zuvor wieder. Sie spielen kindliche Spiele mit einem etwa gleichaltrigen Mädchen, jagen sich, schlagen sich, schreien sich an. Dem Mädchen gefällt es. Ich muss an „Oh-La-La“ von den Faces denken und wünsche ihnen, die Lust des Mädchens zu erkennen und anzunehmen. Ich wünsche ihnen, dass einer von ihnen seine pubertäre Energie nutzt und das Mädchen küsst, anstatt sie zu schlagen und mit stumpfen Schimpfwörtern über den Marktplatz zu jagen. Denn das Mädchen mag die Jungs, ob trotz oder wegen ihrer Rohheit kann ich nicht sagen, aber es ist deutlich zu erkennen. Doch weil sie entweder vollgepumpt sind bis unter die Stirn mit ihrer präpubertären Hip-Hop-Machismo-Lyrik oder aber einfach schüchtern und unsicher wie es typisch ist für deutsche Jungs, trauen sie sich nicht sie zärtlich zu berühren oder zu küssen und jagen sie stattdessen lieber weiter über den Platz, bis sie über einen Bordstein stolpert.

Ich nehme in der hoteleigenen Gastwirtschaft Platz und der Wirt begrüßt mich sehr freundlich. Ob alles in Ordnung sei, „Herr Schneider“ – erst ab dem zweiten Bier wird man hier geduzt – möchte er wissen und es gäbe wirklich nichts zu bemängeln. Ich bestelle ein Pils sowie deutsche, vegetarische Hausmannskost und beginne, einige Notizen zu machen. Die Fußballvorberichterstattung beginnt. Heute spielen die Bayern, die mir eigentlich redlich egal sind, aber da ich bereits beim Einchecken nach dem Spiel gefragt habe, geht der Wirt wohl davon aus, dass ich Bayern-Fan bin. Er selbst ist Herthaner und zwar in Form einer wandelnden Sportenzyklopädie: „Wir sind hier in der Geburtsstadt von Johannes „Hanne“ Sobeck, dem Kapitän der Meistermannschaft von 1932!“ klärt er einen Gast auf, der soeben die Kneipe betreten hat und der sich darüber wundert, dass dies hier Hertha- und nicht Hansa-Land ist. Bei diesem Gast, ein Koch aus Berlin und Bayern-Anhänger, bin ich als sogenannter Dortmunder Modefan direkt unten durch. Dranbleiben jetzt an ihm, denke ich, dieser Mann ist eine Sensation: Unter einem ebenso löchrigen wie speckigen Shirt schaut ein unglaublicher Bauch hervor, dazu trägt er eine in die Tage oder Jahre gekommene Jogginghose und fettigste Haare zur schlechten Illusion einer Frisur geformt. Dies alles würde weniger ins Gewicht fallen, wenn er nicht draußen bei Zigaretten und im Plausch mit mir und einem anderen Gast von einem ehemaligen Azubi berichtet: „Der kam an, in Klamotten sowat haste noch nich’ jesehen! Un’ jestunken hatter, dit gloobste nich’! Junkie, Kiffer!“ Der Fettige hat seine Arbeitsdienste via eBay-Kleinanzeigen angeboten und sucht jetzt hier eine Stelle. Wenn nur die Hälfte seiner Geschichten wahr wären, wüsste man nicht, warum so jemand keine Arbeit hat. Er kann alles, er weiß alles, man kann davon ausgehen, dass er das Kochen erfunden hat „Die eene Gastwirtschaft hier war ja ‘ne Katastrophe – nur Pizza hat der Kerl jemacht weil er für den Rest zu faul war!“ Und dann spricht er davon, wie er selbst Pizza macht: Mit einer Knetmaschine. Er würde sogar Fertigteig nehmen, wenn dieser nicht so teuer wäre, weil das „eh keenem auffällt!“ Ich provoziere und fange an von neapolitanischer Pizza zu schwafeln, neunzig Sekunden bei 500° C im Ofen und er blickt mich an wie eine Salzsäule. „Nie jehört, dit is doch viel zu heiß!“ „Damals“ hat er mal „ohne Probleme drei Busse, eene Hochzeit un’ noch mindestens fuffzich à la carte Gäste bewirtet, alleene, einfach so, dit’ mach ick dir!“ Klaro, Übertreibung macht natürlich anschaulich und große Fische haben wir alle gefangen, aber langsam kann auch der andere Koch in der Raucherrunde sein “Jaja,is’schonRecht!”-Grinsen nicht mehr verbergen.
Nun schließt sich das Erfolgsmodell des Ortes der Raucherrunde an. Der junge Mann hat es geschafft und er muss es allen zeigen. Er präsentiert den Schal von Real Madrid, sein Arbeitgeber hat ihn und einige Kollegen in der vergangenen Woche nach Madrid eingeladen um dort das firmeninterne Arbeitsklima zu steigern. Man ließ sich nicht lumpen: Fünf Sterne Hotel am Fluss, Karten für die Champions League, Stierkampf, Flamenco , „you name it!“ Auf seinem Schal hat er das Autogramm von Christoph Metzelder. „Der hat für Dortmund gespielt, für Real und für Stuttgart! Der war in der Nationalmannschaft! Der war ‘ne Nummer!“ „Sonst hast du keinen getroffen?“ „Nee, das war der einzige.“ Er präsentiert sich sehr laut und es könnte unangenehm sein, ihm bei seinem Prahlhansen zuzuhören. Andererseits kann ich es mehr als bloß nachvollziehen, wenn man einen Tag in diesem Ort verbracht hat. Wer es hier raus schafft, muss dies einfach nach außen tragen.
Der Wirt gesellt sich zu uns und spricht ein bisschen über den Ort. Wenn es gut läuft – das bedeutet: Wenn das Wetter gut ist – kann man hier fünf bis sechs Monate im Jahr Geld verdienen. Wenn nicht nur drei. Der Ort, die Bewohner, alles hier klammert sich an den sanften Sommertourismus. Ansonsten lebt die Dienstleistung vom Altersschnitt der Bewohner, siehe Apotheken und Physiotherapeuten. Der finanzielle Druck ist so stark, dass er abwägen muss, ob er die Hochzeit des besten Freundes im Mai besuchen wird oder lieber Geld verdient, weil der Mai eben nicht nur zum Hochzeiten feiern gut geeignet, sondern auch der Monat mit den langen Wochenenden und den Touristen ist. Zwischen den Stier- und Küchenkampfgeschichten der anderen sind dies die leisen und bescheidenen Töne in dieser Runde. Mit den ebenso deprimierenden wie genügsamen Anekdoten sorgt er für Stille in einem Kreis sich selbst bauchpinselnder junger und nicht mehr ganz junger Männer und Angeber und bleibt mir somit als eine gute Seele des Ortes in Erinnerung.

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