LÜTERSHEIM

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Wenige Tage vor dem Aufbruch zu meinem ungestümen Marsch stehe ich vor einem gigantischen Osterfeuer in einem wirklich sehr, sehr kleinen Dorf an der nordhessisch-südostwestfälischen Grenze, wo sich ein Teil meiner Familie vor einigen Jahren angesiedelt hat. Ich stehe dort nicht nur neben dem Feuer, sondern auch neben mir; bin unsicher, verwirrt, verloren und starre in die meterhohen Flammen wie ein gehetztes Tier. Alleine stehe ich hier im wild lodernden Licht und bin ein isolierter, getrennter Mensch. Die Wunden sind noch ganz frisch und offen – nicht plötzlich aber unverhofft und heftig wurden sie geschnitten – wie derlei Umschwünge nun einmal verlaufen müssen um wirklich einzuschneiden. Diese Art von Paradigmenwechsel motiviert Menschen mitunter, die sonderbarsten Dinge zu tun. Über mögliche Abenteuerlichkeiten versuche ich im Angesicht des infernalen Flackerns zu sinnieren und spüre doch nur klaffende Leere in und sengende Hitze auf mir.

Als ich dort stehe und ins Feuer starre, geräuchert werde und auf eine diffuse Art der Erleuchtung warte, spüre ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen habe, steht direkt hinter mir und deutet auf einen Stehtisch einige Meter entfernt, an dem vier oder fünf Leute im flackernden Licht am zechen sind. „Komm’ mit, trink’ einen Schnaps mit uns! Dann musst du hier nicht alleine stehen!“

Ich bin vollkommen perplex, diese Geste habe ich nicht erwartet. Ich möchte im Moment und an diesem Abend für mich sein, mit niemandem reden – deshalb lehne ich ab und verabscheue mich direkt dafür. Denn wie kann man ein solches Angebot ablehnen, oder unfreundlich, undankbar, schroff zu erscheinen? Es ist der Ausdruck einer Willkommenskultur, die ich in diesem kleinen Dorf – womöglich überall? – für äußerst unwahrscheinlich gehalten habe. Warum eigentlich?

Dann musst du nicht alleine stehen, sagte er.

Alleine gehen und unterwegs sein, dies soll mir für einige Wochen zum neuen Lebensinhalt werden und ich freue mich an diesem Abend sehr darauf. Denn der Satz und die Geste des unbekannten Einheimischen sagen mir vor allem: Läuft. Was soll schon schiefgehen, wenn in kleinsten Dörfern derlei Einladungen ausgesprochen werden? Mit etwas Zuversicht wird es und werde ich wie von selbst gehen, das sagt mir dieses Klopfen auf die Schulter.

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BERLIN / M41

Vier Tage später:

Der M41-Bus, der den Hauptbahnhof mit Neukölln verbindet, ist ein unverwechselbarer Absatz Berliner Handschrift. Zunächst erscheint er unpünktlich oder überhaupt nicht, dann jedoch, wenn man nicht mehr mit ihm rechnen mag und bereits nach Taxen Ausschau hält, gehetzt und bockig durch die Enge der Sonnenallee, bis auf den letzten Stehplatz gefüllt mit audiovisuellen Eindrücken, ein Muster des Berliner Gesellschaftsquerschnitts befördernd: Rollkofferzieher, Geschäftsreisende, Aggro-Kids, Models, Säufer. „Du bist der Bus der im Rudel fährt“ heißt es in einem Song, und so kann ich mir auch an diesem frühen Morgen aussuchen, welchen der drei M41er ich von meiner Kreuzberger Wohngemeinschaft aus zum ewig unfertigen Berliner Hauptbahnhof wähle.

Das Lichtspiel im Bus ist einer meiner Lieblingseindrücke in Berlin: Im Tiergartentunnel dreht sich der Schatten der vordersten Haltestange wie ein Karussell auf dem Fußboden, weiter und weiter, immer wieder, von Tunnellampe zu Tunnellampe, Meter für Meter bis wir das Ende des Tunnels erreichen und der gläserne Hauptbahnhof sich neben uns in den dunkelblauen Morgenhimmel erhebt. Dieses Lichtspielkarussell ist mein Pawlow’scher Reflex, eine Assoziation die mir stets verdeutlicht, dass ich zu einer Reise aufbreche. Mein Körper befindet sich an diesem Nichtort und ich starre auf die Lichter und Schatten, während meine Gedanken sich auf den Weg, der vor mir liegt freuen.

Der Bus ist so früh am Morgen noch verhältnismäßig leer, der kann auch anders. Dennoch sprinten die Passagiere hinüber zum Hauptbahnhof, alle bis auf den schnarchenden Undercut- und Dreadlockträger, der noch in der Minute, in der er den Bus betreten hat in seinem Sitz eingeschlafen ist. Der Himmel wird blau, als ich das Gebäude betrete und mir einen Bäcker suche. Der RegionalExpress3 erscheint pünktlich und ich verlasse Berlin um 06:45Uhr, hinein in den wohl schönsten und kitschigsten Sonnenaufgang, den ich je gesehen habe.

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